***1***
Ihr Blick fällt auf die Zeitanzeige, als sie gerade umspringt: Null Uhr Null. Wieder Dezember angebrochen, ihr 57. und sicher keiner ihrer besten.
Früher hat sie den Winter geliebt, die Adventszeit. Als Kind, wenn Mama backte. Auch als sie selber Mama einer Tochter war. Zumindest hat sie sich bemüht, hat Teig geknetet mit der Kleinen, die mit dem Feuereifer dabei war, den bei solchen Tätigkeiten angeblich alle Kinder an den Tag legen. Melanie bewies ihr, dass die Klischees, an die sie nie geglaubt hatte, doch wahr sein konnten – das kleine Mädchen backte leidenschaftlich gerne Plätzchen. Ausstechen, einen Stern nach dem anderen, ein Tannenbäumchen, noch eines, Engel. Alles fein säuberlich aufs Blech. Den verbliebenen Teig zusammenkneten, ausrollen, wieder von vorn. Und noch einmal und wieder. Bis dann der allerletzte, inzwischen graue Teigrest endlich im Kindermund verschwunden war.
Dezember geht nun also unvermeidlich wieder los. Sie hievt sich hoch. Das war mal leichter, früher, als sie selbst noch leichter war. Lange her, nun ja. Nicht drüber nachdenken. Das Sofa zum Bett umbauen, im Schlaf den Winter vergessen. Winterschlaf, am liebsten. Aber sie ist ja wieder hellwach. Dann also einen Film anschauen, den heutigen Abend verlängern, den Dezember betrügen. Denn diese Zeit jetzt vor dem Schlafengehen, das ist doch noch der Rest von gestern, vom Novembertag. Na also. Wenn sie lange aufbleibt, fängt morgen der Dezember ein paar Stunden später an. Unschlüssig vorm Regal. Ja, der Piaf-Film. Dabei vergisst sie jedes Mal sich selbst und Raum und Zeit. Gute Idee, die Zeit vergessen. Piaf genießen und bewundern, Edith, ihr großes Vorbild. Also rein mit der DVD, wieder aufs Sofa, zurücklehnen, so tun, als wäre es November.
*** 2 ***
Gestern scheußlich gelaufen, der erste Dezembertag, das war ja zu erwarten. Zerschlagen nach dem späten Film, bei dem sie eingeschlafen ist. Abhaken. Heut kann nur besser werden – wenn sie es schafft, die Lichter auszusperren, die Engel, Kerzen, Tannenzweige überall. Das mit den Lichtern wird ihr schwer fallen, sogar zuhause, wo sie doch jedes Mal, wenn sie in Richtung Fenster guckt, vom bunten Blinken gegenüber angefallen wird. Lila – grün – gelb – rot. Lila – grün – gelb – rot. Lila … Jedes Jahr dieses Leuchttannenbäumchen im Küchenfenster bei Nachbarn auf der anderen Straßenseite, Leuten, die sie nicht kennt und niemals kennenlernen möchte. Wer sich so was ins Fenster hängt, muss ja verrückt sein. Die alte Decke raus kramen, vors Fenster hängen, das Blinken aussperren. Wo ist die Decke? Die Energie zum Suchen bringt sie nicht auf. Erträgt das Farbpulsieren, hat sich schon oft daran gewöhnt.
***3***
Heut muss sie sich aufraffen. Haare waschen, frischer Pulli. Den schwarzen Rolli hat sie neulich auf dem Balkon vergessen, der ist bestimmt schön frisch. Ganz schön eiskalt und klamm auch. Vor die Heizung also, bis zum Abend. Und nicht vergessen, die Tüte mit dem Katzenstreu mit runternehmen.
Stimmt schon, Schwarz macht harte Züge. Trotzdem, zur Arbeit zieht sie nie was anderes an, macht ja auch schlanker. Manchmal sieht sie nur eine Sekunde lang ihr Spiegelbild, an der Wand hinter den Flaschen. Elegant, irgendwie, denkt sie dann und denkt, die Gäste sehen sie so. Dann lächelt sie.
***4***
Schon fast halb elf und sie ist immer noch müde. Ist wieder spät geworden gestern. Den letzten Gast musste sie rausschmeißen, Ecky, der war mal wieder festgeklebt. Hat kein Signal verstanden, ich lüfte schon mal, Ecky, ja? Blieb stehen, allein inzwischen, alle weg, Norbert hat noch versucht, ihn mitzunehmen. Aber nein, Ecky hielt sich an seinem Pils fest, dem siebten. Das hatte er schon ewig vor sich, leer war es immer noch nicht. Rührend, der alte Ecky, hat es dann endlich doch kapiert und ihr ein großes Trinkgeld in die Hand gedrückt. Da, Chantal, gönn dir was, altes Mädchen. Er hat ja keine Ahnung, ihr Trinkgeld ist fest eingeplant, das ist schon mal der halbe Wocheneinkauf. Der ist heute fällig.
***5***
Auf der Kommode diese Stulpen. Hätte sie die bloß nicht gekauft, was soll sie damit. Sie trägt doch immer Handschuhe, nicht diese Dinger, die die Finger nicht bedecken. Hat sich hinreißen lassen von dem Rot und Lila und der netten Frau am Stand, die all die Sachen selbst gestrickt hat. Das Rot und Lila passt gar nicht zu ihr. Da liegen sie, unnütze Dinger.
***6***
Die rote Mütze mit dem Leuchtstern dran, die ist doch genauso bescheuert wie das bunte Blinken gegenüber. Wegschmeißen sollte sie die. Aber sie geht nicht an den Schrank, nicht an die Schachtel da unten drin mit der Nikolausmütze, der leeren Pralinenpackung – Mon Chéri, die hat sie nie gemocht und diese Packung doch leer gegessen – und mit der einzelnen Socke.
***7***
Bloß kein Adventskranz, dabei bleibt sie.
Was soll denn schlimm sein, wenn man seiner Tochter sagt, der ganze Aufwand lohnt sich nicht für einen alleine. Aber Melanie hat immer aus allem Kritik raus gehört. Und auf Druck reagiert sie empfindlich, so war sie schon als Kind. Dann wird sie laut, ein Wort gibt das andere, und irgendwann sagt Chantal Sachen, die sie gar nicht meint. Dass Melanie immer nur an sich denkt und sich lieber gar nicht mehr melden soll, wenn sie nur meckern will.
Eine Kerze kann man schon anzünden, das ist ja nichts Besonderes und trotzdem feierlich, wenn sie da brennt. Dann darf Männe jetzt aber nicht auf den Tisch.
***8***
Die grüne Kerze ist nun alle, ganz runter gebrannt. Dass sie nicht dran gedacht hat, die vorm Schlafengehen auszupusten. Und dabei hat sie nicht mal was getrunken. Dass ihr das Flackern nicht aufgefallen ist. Wahrscheinlich wegen diesem ewigen Flackern von gegenüber. Wenn sich nun der Kater an der Kerze verbrannt hätte. Oder wenn die umgekippt wäre. Bloß keine neue.
***9***
Ist eigentlich zum Lachen mit all den Lichtern und Lebkuchen, den Tannenbäumen, Nikoläusen da draußen. Liebe Güte, was für ein Getue. Sterngirlanden über Straßen gespannt, Engelein und Jingle Bells in allen Läden. Sollen sie feiern. Feiern, kaufen. Und verkaufen. Darauf kommt’s doch an. Sollen sie singen und knutschen da draußen und sich ihre fröhliche, ihre gnadenbringende Zeit einbilden. Das geht sie nichts an, darauf fällt sie nicht mehr rein. Das Lametta bleibt draußen.
***10***
Die Bude brummt, das Bier läuft und Chantal hat ordentlich zu tun. Gut, dass man im Schummerlicht am schwarzen Pulli nicht so leicht Schweißflecken sehen kann. Sie rennt von Tisch zu Tisch, was ist bloß los heute, mitten in der Woche. Jetzt lässt Brigitte ihr Bier stehen und haut ab. Wenn Norbert und Brigitte streiten, dann geht Brigitte eben und Norbert bleibt noch eine Weile da und trinkt mit seinem Kumpel Ecky noch ein paar Striche mehr auf seinen Deckel. Dann geht er auch und nächstes Mal ist alles wieder klar bei denen. So läuft es da, die bleiben auch zusammen.
***11***
Den Tag am liebsten
überspringen. Einfach das Datum vergessen, übersehen. Ist doch egal, welcher Tag. Ist nicht egal. Henry war weg, an dem Tag letztes Jahr. Er kam nicht in die Pinte, obwohl er dran war, sie kannte
seine Tour doch, seine Termine. Er war in der Stadt, bestimmt. Aber er hat sie nie belogen, sie wusste immer, eines Tages wäre er weg. Den Tag überspringen und den nächsten, vor allem den
übernächsten. Und viele Tage seitdem. Die Tage, an denen sie ihn vermisst.
***12***
Mit Henry war also Schluss vor einem Jahr, sie fand sich damit ab. Am nächsten Abend, den er eigentlich mit ihr verbringen sollte, saß sie auf ihrem Sofa und streichelte Männe so heftig, dass er fauchte und von ihrem Schoß sprang. Er kam erst wieder zu ihr, als sie das Bett machte. Spät. Schlafen konnte sie trotzdem nicht.
***13***
Und dann hielt sie es doch nicht aus. Sie war so blöd und wollte es nicht wahrhaben und suchte sein Hotel. Er blieb ja meistens bis zum Wochenende. Am Freitagabend fragte sie dort nach ihm. Wenn er da eine andere gehabt hätte, das hat sie fast erwartet. Hatte er aber nicht. Freute sich, dass sie kam, war nicht mal überrascht. Er wollte grade was essen gehen, nahm sie mit, spendierte ihr eine Pizza, lachte mit ihr beim Chianti und nahm sie mit zurück ins Zimmer. Schickte sie aber hinterher nach Hause, hier, fürs Taxi. Sie wusste, da war nun wirklich Schluss. Das Geld wollte sie nicht, sie lief ein Stück und wartete und fror und fuhr dann mit der ersten Bahn am Morgen in ihr Leben ohne Henry. Ihr Leben völlig ohne Henry, viel hatte sie ja nie von ihm gehabt.
***14***
Nachtschwärmer in der Bahn am frühen Morgen damals, letztes Jahr. Chantal sah Paare, überall. Sie drückte sich in eine Ecke, fühlte sich ganz allein, das war sie auch, und unsichtbar, das war sie aber nicht ganz.
Erst schon. Die beiden gegenüber vom Gang hatten keinen Blick für sie. Sie saßen in verschiedenen Abteilen, redeten über die Sitzlehne weg. Wie komisch, hatten die gestritten oder warum saßen sie nicht zusammen. Stellte sich raus, die waren Fremde, die junge Frau redete am Handy mit ihrem Freund, der Mann redete auf sie ein. Die Frau sprach mit beiden, mit dem Freund und dem Fremden, manchmal gleichzeitig. Der sagt, sagte sie ins Telefon, du, Michael, der Typ sagt ... Der Mann dann: Was, dein Freund heißt auch Michael. Ich auch. Was, ehrlich? Sie dann ins Handy: Du, der heißt auch Michael. Hör zu, sagt sie ins Handy. Redet, lacht. Der Fremde Michael in der Bahn wartet ab, er unterbricht sie nicht. Wartet auf eine Lücke, einen Blick von ihr. Der kommt, unweigerlich, die junge Dame genießt die beiden Michaels, den am Handy, den vor sich, der über die Sitzlehne guckt, sie anguckt, die ganze Zeit. Sie beschwert sich nicht darüber, sagt nicht, er solle sie in Ruhe lassen. Sie schickt ihm Blicke, während sie mit dem anderen spricht. Sie kichert ins Handy, gräbt sich ein, gebeugt, die Haare vorm Gesicht, und ist sich offensichtlich sicher, dass dieser nächtliche fremde Michael sie die ganze Zeit anstarrt. Da irrt sie sich aber, denn plötzlich sitzt dieser Michael Chantal gegenüber. Darf ich Ihnen eine Blume, schöne Frau. Er streckt ihr eine Rose hin, leicht angewelkt. Chantal, verdutzt. Nein, ich, nein, danke. Ach nehmen Sie sie doch, bitte, sagt er. Dieser Michael will seine Blume loswerden. Schon hat sie sie. Die Telefoniererin nebenan sagt nun ins Handy: Also bin ich doch nicht die Einzige. Da erst bemerkt Chantal die schlaffe Rose in der Hand der jungen Frau. Die steigt nun an der nächsten Haltestelle aus mit ihrem Handy-Michael am Ohr. Die Rose lässt sie liegen. Bahn-Michael wieder im anderen Abteil, sieht der Handyfrau hinterher. Er sagt nichts mehr. Sinkt auf den Sitz, Chantal sieht nur noch ein Stück von seinem Kopf. Sein Haar leicht schütter. Er guckt nicht, als sie aussteigt. Chantal nimmt ihre Rose mit.
Zuhause hat sie die Blume ins Wasser gestellt, aber die wurde nicht wieder.
***15***
Ihr Leben ganz ohne Henry war gar nicht so viel anders als das mit ihm. Er war ja fast nie da gewesen, alle drei Monate mal oder so. Ganz ohne ihn konnte sie genauso an ihn denken wie vorher, als er noch manchmal kam. Sie dachte gern an den Abend, an dem er das erste Mal in der Pinte aufgekreuzt war. Da war viel los, die Bude voll, sie rannte rum, sie schenkte aus, und als sie dann spät mal wieder die Musik wechselte, merkte sie, dass einer sie so feste anstarrte. Das war ihr peinlich, sie traute sich dann nicht mehr mitzusingen, wie sie es sonst oft tat, gerade bei den ollen Beatles. Hold me tight. Einige Gäste tanzten, wie manchmal gegen später. Und plötzlich hatte dieser Typ sie im Arm.
***16***
Nun muss sie aber endlich mal mit diesen Henry-Gedanken aufhören, er ist ja schon ein Jahr weg. Ein Jahr und drei Tage. Aber es ist schwer, nicht an ihn zu denken, gerade im Advent. Wo es vor zwei Jahren so schön war. Wo er für sie den Nikolaus gespielt hat. Mensch. Das konnte der, Henry. Der konnte einem das Leben verzaubern. Gleichzeitig war immer klar, dass er nicht bleiben würde. Er machte ihr den verspäteten Nikolaus, weil er natürlich Weihnachten bei seiner Familie sein würde. Ganz klar, aber das vergaß sie, das konnte sie vergessen, wenn er da war. Mit seinen schwarzen Augen über dem Rauschebart, den er sich umgehängt hatte. Er hatte Fusseln am Mund nachher und sie dann auch, als er sie küsste. Sein Haar war ganz verschwitzt, als er die rote Mütze abnahm. Er hatte auch für sie so eine mitgebracht, eine mit Leuchtstern.
***17***
Sie wollte doch ausschlafen und ist nun so früh wach. Noch ganz grau draußen, nicht mal das bunte Blinken gegenüber an. Die sparen wohl auch Strom, in früheren Jahren hat das Ding manchmal die ganze Nacht hindurch geflackert. Sie bleibt liegen, vielleicht schläft sie noch mal ein. Sie muss ja abends lange durchhalten. Inzwischen ist sie froh darüber, dass sie nur einmal die Woche arbeiten darf, es macht ihr keinen Spaß mehr, sie schleppt sich hin. Und dann so früh aufwachen. Sie dreht sich wieder um. Aber Männe hat gemerkt, dass sie wach ist, er springt vom Bett und streckt sich und will jetzt sein Futter. Der Mittwoch ist lang, wenn sie so früh aufwacht. Den ganzen langen Tag nicht daran denken, wer nicht mehr kommt.
***18***
Nein, sie hat ihn nicht gleich beim ersten Mal mitgenommen. Er hatte was gesagt von Vertreter und Tour und so, sie wusste, er würde wiedergekommen. So, wie er sie angeguckt hatte. Und wie er sie hielt beim Tanzen, ja, er hat ein Lied mit ihr getanzt. Und sich mit Handkuss von ihr verabschiedet, beim ersten Mal. Auf Wiedersehen, gnädige Frau. Er lachte. Heißt du wirklich Chantal, fragte er. Er sprach den Namen richtig aus, richtig französisch, nicht wie die anderen. Ich heiße Doris, sagte sie, ich nenne mich Chantal. Weil, wegen früher, ja, weil ich mal Chansons gesungen habe. Ein Künstlername, sagte er.
***19***
Als er wiederkam, Monate später, hatte sie hinterm Tresen ihre neuen Schuhe ausgezogen, die drückten, sie trippelte da barfuß und mit Laufmasche herum. Sie wäre am liebsten ganz dahinter geblieben, als Henry auftauchte. Vor den anderen Gästen genierte sie sich nicht, die achteten auf so was gar nicht. Aber Henry sollte sie nicht so sehen. Sie wusste noch gar nicht, wie er hieß. Er winkte, sie musste rüber an den Stehtisch. Bonjour, Chantal, sagte er. Nahm ihr die Gläser ab und schwenkte sie im Kreis. Er bemerkte ihre bloßen Füße, schob seine unter ihre und ließ sie auf seinen Schuhen tanzen. Sie machte sich los, als Ecky und Norbert und Brigitte klatschten.
***20***
Henry hat nie gesagt, dass er sie liebt. Er ist kein Lügner. Aber bestimmt guckt er mit seinem Blick jetzt andere an, mit diesen schwarzen Augen, die so tief in einen rein gucken können. Nicht seine Frau, das glaubt sie nicht. Das ist die eine, zu der er immer wiederkommt, die muss er nicht verzaubern, für kurze Zeit.
Dass Chantal gar kein Mon Chéri mag, konnte er nicht wissen. Da wollte er ihr eine Freude machen, und sie tat nur so als ob. Sie hatte ein richtig schlechtes Gewissen deshalb. Die leere Packung schmeißt sie nun endlich weg. Die Mütze hängt Chantal ans Treppengeländer, vielleicht will eins der Kinder im Haus sie haben.
***21***
Die Socke hat sie noch behalten. Wozu? Da hängt auch eine Lüge dran. Sie hat ihm ein Paar Seidensocken geschenkt, in dem Dezember vor zwei Jahren, die hat er gleich anprobiert, da hat sie schnell eine seiner alten Socken so weit unters Bett geschoben, dass er sie nachher nicht finden konnte. Ein Souvenir, eine Trophäe. Sie war die Lügnerin.
Jetzt kommt die alte Henry-Socke in den Müll.
***22***
Sie weiß ja nicht mal, ob das jetzt noch reicht. Aber die Stulpen passen eindeutig besser zu Melanie. Na klar, die hat sie doch von Anfang an für sie gekauft. Also ab in den Umschlag und einen Zettel dazu, liebe Grüße zu Weihnachten. Nur ja nichts Kitschiges oder was, was ihre Tochter mal wieder für emotionale Erpressung halten könnte. Heute in den Kasten, damit es vielleicht noch ankommt, aber nicht so früh, dass Melanie denkt, sie müsste antworten.
***23***
So, die Ente wäre nun gekauft. Bloß gut, dass an dem Vogel nicht viel dran ist, für sie allein. Natürlich kriegt Männe auch was ab, sogar vom zarten Brustfleisch. Es ist ja Weihnachten. Und morgen muss sie dann gar nicht mehr aus dem Haus.
***24***
Ist nicht so einfach, so zu tun, als wäre das ein ganz normaler Tag. Ist es ja auch nicht, obwohl sie nicht viel draus machen will. Die Ente nachher in den Ofen, die wird hoffentlich lecker. Ansonsten eben doch nichts Besonderes.
Es wird schon dunkel. Noch schnell die Mülltüte runter. Sie läuft in ihren Schlappen, es geht ja nur ums Haus zum Container. In der Eingangshalle an den Briefkästen vorbei. Aus manchen ragen Umschläge raus, auch eine Zeitung, zu Weihnachten sind einige Hausbewohner verreist. Nein, hinter ihrem Schlitz ist nichts, der sieht ganz schwarz aus. Ein schwarzes Loch. Sie fröstelt, der Wind draußen weht ihr die ungekämmten Haare ins Gesicht. Weg mit der Tüte, da ist auch Henrys Socke drin. Mit Schwung in den Container.
Und statt zurück ins Haus laufen ihre Füße jetzt die Straße runter. Ihre Pinte ist heute zu. Aber in der Bierstube ist Licht. Die Typen hier sind angeblich noch verlorener als Ecky und die anderen in der Pinte. Wer sagt das eigentlich? Es ist fast leer, der Mann am Tresen ruft nach einer Gaby. Kundschaft, Gaby, sagt er. Chantal setzt sich auf einen Barhocker am anderen Ende und bestellt ein Pils bei Gaby. Die schafft es, neugierig und gleichgültig auszusehen, zur selben Zeit. Sie zapft. Das Bier ist warm. Ein Grüppchen sitzt noch in der Fensternische, fünf, sechs Leute, die haben Teller vor sich, Kartoffelsalat und Würstchen oder was. Können die nicht zuhause kochen, an Weihnachten? Chantal trinkt ihr warmes Bier und will plötzlich ganz schnell gehen. Da fällt es ihr ein, sie hat nur ihren Schlüssel bei sich, kein Geld, kein gar nichts sonst. Entschuldigung, ich hatte gar nicht vor, kann ich Ihnen das Geld morgen. Gaby zieht ein Gesicht. Zuckt die Achseln. Zückt einen Block. Schreiben Sie Ihren Namen auf. Und morgen, ja? Auf jeden Fall, sagt Chantal. Du willst doch nicht schon wieder gehen, Süße, sagt der Mann am Tresen. Noch mal dasselbe für die Dame, bestellt er. Nein, ich, sagt Chantal, danke, ich muss wirklich los. Ich bringe es Ihnen morgen, wann machen Sie auf, fragt sie Gaby. Du bleibst jetzt hier, bestimmt der Mann, du bist mein Weihnachtsengel, komm schon. Und plötzlich ist sie zu müde, sich zu weigern, und trinkt das Bier und prostet Jürgen zu, so heißt der Mann, und nennt ihn Jürgen und du und lässt sich von ihm Engel nennen, Süße und Puppe. Und es ist schön, mit jemandem zu sein, egal, mit wem, am Heiligabend. Sie trinkt das Bier und noch eins und als jetzt Kling Glöckchen klingelingeling läuft, da singt sie mit und klingt sie mit und ist nicht mehr allein. In Jürgens Augen sieht sie Tränen, er nimmt ihre beiden Hände und breitet die Arme aus und sieht sie an und nickt, sein Engel sei sie, wiederholt er und fragt die alte Frage, zu dir oder zu mir. Zu ihr bestimmt nicht, sie will niemand in ihrer Wohnung, die heute noch weniger einladend aussieht als diese armselige Kneipe, wo immerhin eine Girlande hängt, Plastiktanne und Gold, wo auf den Tischen Zweiglein verteilt sind und kleine Weihnachtsmänner und Kerzen, die eine auf dem Tisch der Gruppe brennt sogar. Chantal will niemand mit nach Hause nehmen und sagt schon fast, zu dir. Da fällt ihr Männe ein, und Henry, und die Ente, die in den Ofen soll, und Melanie. Sie sieht sich diesen Jürgen an und weiß nicht, ist es Selbstmitleid oder Mitleid mit ihm, weshalb sie mit ihm gehen wollte, und weiß nicht, was sie schlimmer fände. Auf jeden Fall ist alles besser, als mit Jürgen weiterzumachen. Danke, sagt sie, das war sehr nett, ein schönes Weihnachten, ich gehe jetzt. Auch Gaby wünscht sie noch schöne Feiertage, und morgen bringe ich das Geld vorbei, sagt sie. Kein Geld, sagt Jürgen. Er sieht empört aus und gekränkt, das lasse er nicht auf sich sitzen, sagt er, wenn er eine Dame einlädt, dann zahlt er auch. Er wedelt mit einem Schein, während Chantal zur Tür geht, von wo sie noch mal winkt und raus, schnell weg, nach Hause, es ist kalt, sie rennt in ihren Hausschuhen, verliert fast einen. Rennt ins Haus, stürmt die Treppe hoch, so schnell hat sie die seit Jahren nicht genommen, sie schließt die Wohnung auf, Tür zu, lässt sich aufs Sofa fallen. Sie schleudert die Schlappen von sich, keucht. Dann lacht sie. Ein schlapper Engel, denkt sie, aber immerhin ein Engel – davongeflogen. Sie lacht und lacht.
(Ende)
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Barbara (Montag, 01 Dezember 2014 09:20)
Ich wünsche ihr Düfte!
Alex Pieper (Montag, 01 Dezember 2014 11:01)
Ich lese mit und freu mich schon!
Anne-Christin Vogt (Montag, 01 Dezember 2014 12:05)
Wie schön!
Jetzt habe auch ich einen Adventskalender!
Bin gespannt auf morgen.
von Boode, Jacqueline (Montag, 01 Dezember 2014 17:45)
danke Heide, ich freue mich auf den 2. Dezember! Was für eine schöne Idee! Passt zu meiner Stimmung!
carlo-sylvester (Montag, 01 Dezember 2014 19:00)
Freue mich auf die täglichen Fortsetzungen!
Sabine (Dienstag, 02 Dezember 2014 00:14)
Schön! Leider viel zu kurz:-) Es ist gerade der 2.12., 0:14 Uhr. Wann wird die Fortsetzung eingestellt?
Lydia (Dienstag, 02 Dezember 2014 13:36)
Danke, liebe Heide, das war eine Überraschung, von ?Blandine? zu lesen! Bin gespannt auf die weitere Entwicklung...!
Liebe Grüße von Lydia
Birgit (Dienstag, 02 Dezember 2014 14:16)
Danke, Heide, das lese ich sehr gern.
Eine schöne Zeit für Euch!
Liebe Grüße
Birgit
Jutta Parchert (Freitag, 05 Dezember 2014 20:42)
Liebe Heide,
Doch nicht Blandine! Chantal also.
Danke dir. Im Gegensatz zu meinem Schokokalender, der nur eklig süße Sachen enthält, die auch noch dick machen!, freu ich mich auf das tägliche Fensterchen von dir.
Grüßle
Jutta
Kookie (Sonntag, 07 Dezember 2014 17:26)
einfach eine unbeschreiblich tolle Idee!!!....
Freue mich, gemeinsam mit den vielen anderen, auf die Fortsetzung und bin gespannt....!!!
Liebe Grüße,
Kookie
BEATRICE (Donnerstag, 11 Dezember 2014 23:37)
Liebe Heide,
Deine Adventskalender Idee gefällt mir ganz besonders!
Sehr gespannt bin ich, wie Chantal Weihnachten erleben wird.
Liebe Grüße von
Beatrice
von Boode, Jacqueline (Samstag, 13 Dezember 2014 17:52)
ja, wie immer hoffe ich, dass Chantal uns ein "happy end" schenken wird! Please!
Super Kalender, super Heide!
Gudrun Abt (Dienstag, 23 Dezember 2014 19:23)
Liebe Heide,
morgen also der letzte Teil der Geschichte über Doris/Chantal.
Ich bin sehr gespannt, wie sie den Heilig Abend verbringt und ob vielleicht doch noch ein Christkind erscheint?
Wünsche Dir, Paul und Frederick schöne Festtage und ein gutes Neues Jahr!
LG G.
Anne-Christin Vogt (Mittwoch, 24 Dezember 2014 00:44)
Grad hab ich den Schluss gelesen - so schön - nicht wie ich - hamoniebedürftig wie ich bin, mir erhofft hatte, aber trotzdem oder gerade deshalb: so schön! Ich danke dir Heide.
Ein frohes Weihnachtsfest allen, die dies im Moment lesen - und ein glückliches Neues Jahr.
Liebe Grüße von
Anne-Christin
von Boode, Jacqueline (Samstag, 27 Dezember 2014 14:14)
soupir! Hab´mir doch gleich gedacht, die Heide, die schreibt doch keine X-mas happy end....Also tröste ich mich, und denke mir die Fortsetzung à la Jacqueline, ...nein, nein, nicht so wie man denkt, mit Kuss und so...nein nein, einfach tröstlich..und nur für mich...und für Chantal!
Es war sehr schön und spannend Heide, vielen Dank für diese Augenblicke beim Lesen!
Lola (Samstag, 27 Dezember 2014 17:31)
Ein feiner Schluss , ich hatte schon die Befuerchtung Juergen und Doris wuerden am Fluss sitzen und Weihnachtssterne essen. Maenne und Ente und lachen ........das beruhigt mich. Hat Spass gemacht. Liebste Gruesse von Lola