Notizen vom Schreiben-on-Tour
Der Flughafenexpress hält hier nicht, das ist ein Oferdinger Fakt. Ein weiterer: Es gibt eine Lindberghstraße, deshalb bin ich hier. Ich sah vom Bus aus das Straßenschild, wurde neugierig, stieg spontan an der nächsten Haltestelle aus und stellte fest, dass es auch eine Amundsenstraße gibt. Sogar Robert Scott ist im Oferdinger Straßenverzeichnis zu finden.
Ich spekuliere: Da hat wohl mal ein Bürgermeister seiner Abenteuerlust freien Lauf gelassen, hat in seiner Fantasie mit Lindbergh den Atlantik überflogen, mit Amundsen den Südpol entdeckt und Sympathie für den Verlierer Scott aufgebracht. Saß derweil ganz bequem im Oferdinger Rathaus auf seinem Pöstchen und benannte Straßen nach seinen Helden.
Die junge Frau in der Bäckerei sieht mir auch so aus, als wolle sie hier nicht begraben sein. Lola-rennt-rote Haare und lila Fingernägel, ein Mund, der Kunden anlächelt, und Augen, die ganz woandershin träumen. Natürlich trägt sie brav ihre Berufskleidung. Unter dem Kittel lugt was in Orange hervor. Ich weiß zu wenig über Leben auf dem Dorf, um zu entscheiden, ob sie wohl aneckt hier. Ich spinne meine eigenen Gedanken in diese Leute hinein, in den fiktiven Bürgermeister von anno irgendwann und in die sehr reale, mir jedoch gänzlich unbekannte Bäckereifachverkäuferin, wie man sie heute nennt.
Ich orientiere mich auf dem Stadtplan bei der Bushaltestelle, suche nun das Rathaus, in dem vielleicht mein Bürgermeister mal residiert hat. Finde es im Gewirr von Gassen und Hinterhöfen nicht, gebe leichtherzig auf, lasse mich weiter treiben an der Kirche vorbei, auf einem schmalen Pfad hinunter, immer abwärts.
Ich kreuze einen Bachlauf, der fast trocken ist, grün bemooste Steinklötze, Geröll, laufe auf einem asphaltierten Forstweg daran entlang, hinunter zum Neckar. Dort finde ich die Mündung dieses Moosbachs, und statt gleich weiter auf dem Pfad am Fluss entlangzugehen, muss ich ein Stück zurück, diese Gerölltreppe hochsteigen, muss vorsichtig von Stein zu Stein aufwärts balancieren.
Die Brocken sind
fast alle samtmoosgepolstert, trocken, es plätschert, tröpfelt nur vereinzelt, der Oferdinger Bach, dessen Namen ich nicht kenne, jetzt nur ein Rinnsal.
Ich bin in eine Wildnis geraten, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte. Ob wohl mein Oferdinger Bürgermeister, der erfundene, hier rumgestiegen ist? Nicht in den Fußstapfen von Lindbergh und Amundsen, sondern vor seiner Haustür? Die Verkäuferin in der Bäckerei könnte ich fragen, ob dies verwunschene Plätzchen vielleicht ihr Lieblingsort ist.
Tu es natürlich nicht, ich laufe weiter, am Neckar entlang nun Richtung Pliezhausen.
Finde die Haltestelle im Ortskern und stelle fest, hier hält er, der Flughafenexpress. Anbindung an die Welt also. Ich steige aus, ich steige um, aber nicht in den Bus zum Flughafen, sondern in den kleineren, der eine Schleife über die Dörfer fährt.
Fünf einzelne Sitzplätze darin, am Rand aufgereiht, dreimal zwei Sitze nebeneinander und dazu noch vier Klappsitze vorne. Für fünfzehn Leute also im besten Fall, und noch ein paar Stehplätze. Stehen möchte ich aber nicht während der Fahrt. Es ruckelt, kurvt, schaukelt. Über die Dörfer heißt über Land, dreißig Minuten dauert die Fahrt über Landstraßen, landwirtschaftliche Nutzwege, vorbei an rapsgelben Quadraten, butterblumengesprenkelten Wiesen. Zwei Fahrgäste sind in Pliezhausen mit mir eingestiegen, ein Schulferienjunge und eine Frau, deren lila Sweatshirt sich mit ihrem geröteten Gesicht beißt. Sie schnauft, es ist heiß. Wir rumpeln durch die Dörfer, die beiden Fahrgäste vom Anfang sind aus-, dafür drei andere eingestiegen, die nachher in Pliezhausen wohl mit dem 3er „in die Stadt“ weiterfahren. Da muss ich auch bald wieder hin. Mit dem 3er fahre ich oft, aber sonst nicht diese Richtung, nach außerhalb. Ich freue mich schon auf die Haarnadelkurve, von hier aus hinter Oferdingen, die ich seit heute kenne.
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